Okt. 27

Liebesbriefe

Die Digitalisierung hat sicher viele gute Sachen bewirkt. Man kann schneller einen Flug in die USA buchen als die Steuererklärung ausfüllen. Informationen (Wissen) sind extrem leicht zugänglich und ich bin froh darüber. Eigentlich war ich sogar immer ein großer Fan – des technischen Fortschritts sowieso – und auch der Digitalisierung. Es ergeben sich neue, unendliche Möglichkeiten (Outfittery !)und man bedient sich einfach – so dachte ich bisher. Man muss ja nicht bei Twitter (bin ich nicht) oder SnapChat (bin ich nicht) oder was auch immer mitmachen (wer hat schon so viel Zeit?). Ganz so einfach ist es jedoch inzwischen nicht mehr. Die Digitalisierung hinterlässt Spuren, tiefe Spuren. Es gilt: ‚Wir formen unsere Werkzeuge, und dann formen die Werkzeuge uns‘ (M. McLuhan: das Medium ist die Message). Vielen Dingen kann man sich inzwischen nicht mehr entziehen und der unreflektierte Umgang und das blinde Hinterherlaufen hinter dem allerletzten Digitalisierungsding ist keineswegs innovativ, es ist bloß naiv. Keine noch so euphorische gefeierte Neuerung bringt nur Segen, es gibt IMMER auch Kehrseiten: Liebesbriefe z.B. zeigen das ganze Dilemma. Irgendwie geht – dank der Digitalisierung – ein Kulturgut unter. Wer schreibt noch Liebesbriefe? Heute bleibt man lieber unverbindlich: eine WhatsApp – oder Facebook-Nachricht mit Smiley tut es doch. Bevor man gedanklich oder emotional zu sehr einsteigt, klickt man einfach ‚Gefällt mir‘. Dieses lauwarme Oberflächennetzwerken ist widerlich. Das Ego steht im Zentrum, der Rest wird digitalisiert. Ist das der Traum? Lassen sich Gefühle digitalisieren? Oder verkrüppeln die einfach nur in dieser heilen Emojicon-Gefühls-Welt?
Ich lese gerade zwei Bücher, die ich sehr empfehlen kann:

1. Shaun Usher: More Letters of Note: Briefe für die Ewigkeit

122 Briefe – einzigartige Einzelstücke, undenkbar in einer flüchtigen Welt von Bits und Bytes. Einen Brief zu schreiben erfordert Aufwand, Leidenschaft, Wille. Formulierungen sind ewig. Das Gegenteil einer Facebook-Chronik, die durchläuft. Die Briefwechsel prominenter Menschen waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt  und gewähren somit Einblicke in Schreibstil und Gefühle, die einem sonst verwehrt sind.
Immer weniger Menschen vermögen es, zusammenhängende, fehlerfreie und lesbare Sätze mit der Hand zu schreiben. Mit dem Buch gibt es wenigstens wieder ein Vorbild.

2. Susan Greenfield: Mind Change.

Was macht das Internet mit dem Gehirn? Es ist wohl nicht unbedingt in allen Facetten vorteilhaft. Die Konzentration lässt nach, man giert nach Belobigung im sozialen Netzwerk (Dopamin!), die Netzwerke bzw. die Algorithmen im Hintergrund sorgen dafür, dass man nur noch das sieht, was man vermeintlich sehen möchte. Man wird eingelullt und unreflektiert. Die Tiefgründigkeit geht verloren (siehe auch Carr: The Shallows). Selbst große Digitalisierungsfans sollten das mal lesen. Es hilft für das Verständnis.

Lesen und verstehen! Jeder Mensch möchte besonders sein (ist er im Prinzip ja auch) aber dieser Klick-Und-Zwitscher-Einheitsbrei macht doch alles gewöhnlich. Wo bleibt das Besondere? Das Leben ist doch zu kurz für diesen ganzen oberflächlichen Digital-Mist.

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